Dschungelcamp auf dem Butterbrot
In Sachsen-Anhalt wird ein außergewöhnlicher Käse hergestellt. Sein Aroma entsteht, weil Tausende Milben an ihm herumknabbern.
Von Kathrin Hollmer
Milben der Spezies Tyrophagus casei sind etwa 0,5 Millimeter groß, haben acht Beine wie alle Spinnenarten, Kieferklauen und lange Haare auf dem gepanzerten Körper. Etwa 50 000 Käsemilben, wie sie auch genannt werden, krabbeln in einer Packung Würchwitzer Milbenkäse, was ihn für manche zu einer der ekligsten Käsesorten Deutschlands macht. Andere loben ihn dafür als eine der köstlichsten überhaupt. Ganz sicher ist er aber einer der teuersten Käsesorten.
Zwischen neun und 100 Euro (hängt vom Reifegrad ab) kosten 100 Gramm Käse, Milben inklusive. Unter dem Mikroskop sehen sie wie schwarze Zecken aus, in Wahrheit ist ihr Körper milchig-transparent, wie ein Wassertropfen mit Beinen. Während Vorratsschädlinge Lebensmittel ungenießbar machen, lassen die Käsemilben ihren Wirt erst reifen. Die genauen Vorgänge sind noch nicht ganz erforscht. Sicher ist aber, dass die Milben den Käse anknabbern, ihre Ausscheidungen in eine Mischung aus Ammoniak und Wasser zerfallen und mit dem Speichel der Tiere den Käse fermentieren und ihm sein spezielles Aroma geben.
Ein drei Meter großes Denkmal in Form einer Milbe ehrt Käse und Hersteller
Der pensionierte Chemie- und Biologielehrer Helmut Pöschel, 71, aus Würchwitz, einem Ortsteil der Stadt Zeitz in Sachsen-Anhalt, und Christian Schmelzer, 29, der aus dem Nachbarort Kayna stammt und in Berlin in Theologie promoviert, sind die Einzigen, die den Käse in Deutschland verkaufen dürfen. Ihr Geschäft, vor dem sich die meisten Menschen ekeln dürften, nehmen sie sehr ernst. Am Telefon nennt Schmelzer seinen Partner Milbenkäsepapst und spricht von Audienz. In Würchwitz steht ein drei Meter hohes Denkmal in Form einer Milbe. Im Milbenkäsemuseum, einem Raum in Pöschels Haus am Ortsrand, stellt er Plüschmilben aus, Schmuck aus geschliffenem Hartkäse und ein angeblich 200 Jahre altes Stück Käse in einem Glassarg.
In einem Erbpachtvertrag aus dem 16. Jahrhundert wird Milbenkäse zum ersten Mal erwähnt. Pöschel und Schmelzer schätzen, dass es ihn bereits seit 1000 Jahren im Dreiländereck Altenburger Land gibt, wo Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt aufeinandertreffen. „Luther kannte den bestimmt“, sagt Schmelzer und lacht. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurde in der Gegend nahezu auf jedem Hof Milbenkäse hergestellt. Das Ungeziefer duldete man, weil es zwar den Käse anfrisst, er dadurch aber nicht ungenießbar, sondern haltbar wird – trocken gelagert angeblich bis zu 50 Jahre. Dann verbot das Lebensmittelgesetz der DDR den Verkauf von Lebensmitteln bei Milbenbefall, und auch privat stellten immer weniger Menschen Milbenkäse her.
Pöschels Großmutter und Mutter machten Milbenkäse, seit er denken kann. Im Dialekt heißt er „Mellnkase“ oder „Bummler“, weil er so lange für die Reife braucht. Als er als Schüler herausfand, was „Melln“ bedeutet, aß er zwei Wochen lang keinen Käse mehr. Länger hielt er es nicht ohne seinen Lieblingskäse aus und machte ihn später sogar zu seinem Hobby. Als die Käsemilben in Würchwitz und Umgebung schon fast ausgestorben waren, bewarb er sich 2005 mit Schmelzer für ein Förderprojekt für regionale Traditionen. Mit dem Startkapital für ihre Firmengründung erhielten sie eine Sondergenehmigung vom Veterinäramt für den Handel mit Milbenkäse.
Wegen seiner langen Tradition darf der Käse als regionale Spezialität verkauft werden. Heute bezeichnen sie sich als „größtes Unternehmen der Welt“, mit „Hunderten Millionen Mitarbeitern“. „Wir sind Milbionäre“, sagt Pöschel. In seinem Haus reift in sieben Kisten Milbenkäse heran. Jede Kiste bewohnen 250 Millionen Tiere. „Der lebendigste Käse der Welt“, sagt Schmelzer. Wenn man Käse mit Milben verkauft, sind Wortspiele wohl unvermeidlich.
Öffnet man eine der Kisten, sticht einem ein beißender und gleichzeitig erdiger Geruch nach Zitrusfrüchten und Ammoniak in die Nase. „Der Geruch kommt von den Ausscheidungen der Milben“, sagt Helmut Pöschel, „und von dem Abwehrsekret, das die Milben bei Gefahr abgeben, etwa wenn man an der Kiste wackelt oder den Käse schneidet.“ Es enthält Neral, den Hauptbestandteil von Zitronenöl. Die Käsestücke in den Kisten liegen zwischen einer Masse, die von Weitem wie brauner Zucker aussieht und sich leicht bewegt. Aus der Nähe erkennt man einzelne Milben. Die Zucht hat Pöschel von seiner Mutter übernommen.
Für die Herstellung kaufen die Würchwitzer Käser Magerquark aus Kuh-, Ziegen- oder Schafsmilch und trocknen ihn, bis er krümelt, aber noch klebt. Danach wird geklitscht, wie das Formen der Milbenkäsestücke im Dialekt heißt. Die beiden stehen vor einer großen Schüssel und streuen Salz, Kümmel und getrocknete Holunderblüten hinein. Aus dem Quark formen sie daumengroße Rollen und kleine Birnen. Bevor sie in die Kisten kommen, trocknen die Stücke auf einem Brett weiter. Nicht zu lange, sonst können die Milben nicht vom Käse fressen. Nicht zu kurz, sonst bleiben sie kleben und sterben. „Den richtigen Zeitpunkt muss man im Gefühl haben“, sagt Pöschel.
Die Milben in den Kisten brauchen etwa 15 Grad und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit, darum lüftet der Rentner jeden Tag die Kisten. Er wendet die Stücke, kratzt Milben, die festkleben, vom Käse, und füttert sie mit Roggenmehl, ihrer Lieblingsspeise, damit sie nicht den ganzen Käse auffressen. Milben sind heikel. In Kisten aus behandeltem Holz gehen sie ein, sie fressen keinen Quark mit Konservierungsstoffen, am liebsten Bioqualität und im Winter langsamer. „Das Silofutter, das vor allem Kühe im Winter hauptsächlich fressen, mögen sie nicht so gern“, sagt Christian Schmelzer. Dafür muss sich sein Partner nicht sorgen, dass sie sich in seinem Haus ausbreiten. Sie haben keinen Grund, die Kisten zu verlassen.
Mindestens drei Monate reift der Käse in den Kisten. Dann ist er außen hellbraun und in der Mitte noch weiß und weich wie Quark. Nach einem halben Jahr färbt er sich bernsteinfarben und wird mittelfest. Nach einem Jahr ist ein Hartkäse daraus geworden, außen fast schwarz, mit deutlichen Fraßspuren. Anfangs schmeckt der Käse mild und nur außen bitter, nach längerer Reifung schrumpft der Käse und schmeckt wie ein besonders würziger Harzer Käse, intensiv nach Kümmel, außen bitter und nach Lakritz, mit einem langen Nachgeschmack, der auf der Zunge prickelt.
Traditionell isst man Milbenkäse in dünnen Scheiben auf einem gebutterten Bauern- oder Roggenbrot. Manche reiben ihn wie Parmesan über Pasta oder geben ihn ins Omelette. Ganz harten Käse reibt man mit einer Muskatnussreibe in etwas Butter und streicht die „Bummlerbutter“ aufs Brot. Der Fernsehkoch Steffen Henssler richtete in der in Vox-Sendung „Grill den Henssler“ einen Caesars-Salad mit Milbenkäse statt Parmesan an. Im Hotel Elephant in Weimar servierte der Sternekoch Marcello Fabbri ein Slowfood-Menü mit Milbenkäse und karamellisierten Honigbirnen als Dessert. Zum Käse trinkt man eher süße Weine wie Eiswein oder Müller-Thurgau, sagen die Hersteller, als Kontrast zum strengen Käse. Selbst trinken sie gern Pils dazu.
Für Pöschel und Schmelzer ist der Milbenkäse bis heute ein Hobby geblieben. Sie verkaufen ausschließlich online und verschicken europaweit. In der Käsetheke in einem Geschäft und auch zu Hause im Kühlschrank könnten die Milben auf andere Lebensmittel übergehen. Im Jahr verkaufen sie ein paar Tausend Stück, an Rentner, die den Käse von früher kennen, und Foodies, die damit ausgefallene Häppchen auf Partys servieren. Käse mit lebendigen Tieren ist maximal exotisch, ein kleines Abenteuer, Dschungelcamp auf dem Butterbrot.
Ihr Käse ist nicht der einzige, der absichtlich von Schädlingen befallen wird. Beim kugelförmigen Schnittkäse Mimolette aus Frankreich wird die Rinde von Mehlmilben angefressen. Nach der Reife werden die meisten Milben entfernt, trotzdem darf er seit 2013 nicht mehr in die USA importiert werden. Casu marzu (nach sardischem Dialekt: verdorbener Käse), ein überreifer Schafskäse aus Sardinien, reift so lange, bis er Maden enthält, die sich aus den Laiben schlängeln und mitgegessen werden. Von der EU wurde der Käse verboten, weil durch ihn Krankheiten übertragen werden können, und sogar als „potenziell tödlich“ eingestuft. Die Sarden stellen ihn trotzdem her, aus Tradition und weil er als natürliches Potenzmittel gilt.
„Vielleicht müssten sie die Maden einfach kleiner züchten, wie unsere Milben, damit die EU den Käse erlaubt“, sagt Pöschel dazu. Ihre Manufaktur wird ein bis zwei Mal im Jahr durch das Gesundheitsamt überprüft, außerdem schicken sie selbst Proben ins Labor. „Wir machten von Anfang an viele Untersuchungen mit Lebensmittellaboren, um die Unbedenklichkeit nachzuweisen. Im Gegensatz zu anderen Käsesorten ist der Keimgehalt beim Milbenkäse sogar äußerst niedrig“, sagt Schmelzer. Der Ammoniak im Milbenspeichel hält Bakterien und Pilzkulturen fern, die Milben fressen Keime und tote Milben sowie jegliches Eiweiß. Darum müssen sich die beiden ihre Fingernägel ausbürsten, wenn sie mit den Händen in der Kiste gearbeitet haben. Die Milben würden unter den Nägeln weiterfressen und sie brüchig machen.
Sehr viele Menschen ekeln sich vor dem lebendigen Käse. Der Verbreitung schadet das nicht
In den zehn Jahren, in denen sie ihre Manufaktur betreiben, haben Pöschel und Schmelzer den Milbenkäse mit viel Öffentlichkeitsarbeit bekannt gemacht. 2003 war ein Stück auf der Internationalen Raumstation. Slowfood hat ihn 2006 in die „Arche des Geschmacks“ aufgenommen. Die Initiative will Lebensmittel, Nutztierarten und Kulturpflanzen vor dem Verschwinden und Vergessen bewahren. Die New York Times hat über sie berichtet und Fernsehteams von ARD und ZDF. Jedes Jahr kommen Reisebusse mit ein paar Tausend Touristen, vor allem aus Deutschland, aber auch Japan, Russland und den USA, um auf dem Weingut in Würchwitz Wein und Milbenkäse zu verkosten. Die Forschung macht den Käse weiter bekannt. Mehrere Pharmaunternehmen experimentieren mit den Milben, weil sie gegen Hausstauballergien desensibilisieren sollen.
Trotz des Milbenmarketings bleibt der Ekelfaktor. Dem Geschäft schadet er nicht, macht sogar noch neugieriger. Immer wieder verlangen Kunden, dass vor dem Verschicken die Milben vom Käse entfernt werden. Helmut Pöschel legt dann eine Zahnbürste ins Paket – zum Selbstabbürsten.
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Quelle: SZ vom 14.01.2017/feko